Rede zum 1. August 2015, 11 Uhr in Kerns

Ruth Koch-Niederberger, Kantonsratspräsidentin

 

Bengalenzündhölzli, verbrannte Finger, Frauenfürze, Zuckerstöcke, vielleicht eine kleine Rakete, ein grosses Feuer, gebratene Cervelats…

Liebe Kernserinnen, liebe Kernser, liebe Gäste

So habe ich die 1. Augusttage meiner Kindheit in Erinnerung. Wir schleiften dürre Äste aus dem Wald, errichteten einen Holzstoss. Wir Kinder machten Feuer erlebten mit unserem Nachbarsbub einen aussergewöhnlichen Abend, während unsere Eltern schon längsten ins Bett gingen.

Mit den Frauenfürzen sind wir sparsam umgegangen, wir wollten nämlich die Käpsli einzeln zünden. Vielleicht kennen ja auch Sie das Gefühl: das Käpsli in der Hand halten, zu zünden und dann genau im richtigen Moment in die Luft werfen. Wir haben die kleinen Sprengkörper im Ameisenhaufen, der so schön am Grenzzaun gewachsen ist, gezündet. Rund um den 1. August gab es spannende Tage und nur ganz, ganz wenig dachten wir dabei an die Gründung der Schweiz.

Inzwischen sprenge ich keine Ameisenhaufen mehr. Der Grenzhag ist ja auch nicht mehr da, also auch keine Ameisenhaufen mehr. Und ich habe es nicht mehr gerne, wenn es „chlepft“ und „tätscht“. So verändert sich unsere Umgebung, es verändern sich Menschen, es ändern sich die Zeiten.

Die Zeiten verändern sich. Wenn ich jetzt von den Zeiten spreche, spreche ich nicht von den guten, alten Zeiten, sondern von den Zeiten, die hier in der Schweiz hart waren. Es ist gar nicht so lange her, dass unsere Landsleute, aus Obwalden oder aus anderen Kantonen auswandern mussten.

Sie mussten gehen, weil sie wegen der Armut oder wegen Hungerjahren gar keine andere Wahl hatten. Oder weil sie hier keine Perspektiven sahen, weil ja nur ein Familienmitglied auf dem Hof bleiben konnte. oder weil aufgrund der industrielle Umstrukturierung die Arbeitsplätze vernichtete worden sind.

Die Auswanderung aus verschiedenen Regionen der Schweiz erfolgte über Jahrhunderte: Ich zähle auf:

  • Ein erschüttertes Europa nach dem Dreissigjährigen Krieg im 17 Jahrhundert
  • Die wetterbedingte Hungersnot 1709-11, mit einer Ausreisewelle nach Ostpreussen: Die Auswanderer, darunter viele Familien, waren übrigens für diese Auswanderung 4 Monate unterwegs!
  • Probleme in der Textil- und der Uhrenbranche in den 1770er Jahren;
  • Die allg. Verarmung zu Beginn des 19. Jh., die zur Auswanderung nach Russland führte. 25‘000 Menschen sind im 19. Jahrhundert nach Russland ausgewandert, vor allem aus Zürich und aus dem Welschland.
  • In den Hungerjahren 1816-17 war Lateinamerika Auswanderungsziel; die Landwirtschaftskrise und die Umstrukturierungsproblemen in der Industrie in den 1840er Jahre hat dann die ersten Massenauswanderungen nach Amerika auslöste;
  • Schliesslich in den 1870er und 80er Jahre, als die Bauern nach Amerika und die Molkereispezialisten in die europäischen Nachbarländer ausgewandert sind. So haben auch aus unserer Gegend Bauernsöhne als Melker und Käser in Deutschland und in Amerika nach einem besseren Leben gesucht.

Sicher gibt es viele unter Ihnen, die aus den eigenen Familien Auswanderungsgeschichten erzählen könnten.

Die Politik hat je nach Ort und Zeit höchst unterschiedliche Haltungen gegenüber der Auswanderung eingenommen. Das Spektrum in den Kantonen reichte von stillschweigendem Zuschauen bis zum Verbot der Auswanderung, von der staatl. Unterstützung der Auswanderung bis zur Abschiebung von armen Familien. Einheimische Auswanderungsagenturen machten lukrative und unlautere, man kann fast sagen schleppermässige Geschäfte.

Nicht immer fanden die Migranten ihr Glück im neuen Land. Viele starben auf der Reise.

Die Zeiten haben sich verändert. Zum Glück. Niemand muss unser Land verlassen, weil er sonst hungern müsste.

Die Zeiten haben sich geändert, es läuft andersherum, die Migranten kommen zu uns. Weil sie hier eine gute Arbeit finden und bessere berufliche Chance haben als im Ursprungsland. Sie kommen auch, weil wir sie suchen und brauchen. Wir suchen sie, damit sie unsere Kranken pflegen, im Tourismus oder in Fabrikationsbetrieben arbeiten, damit sie in der Landwirtschaft für uns Gemüse ernten.

Es kommen aber auch Menschen zu uns, weil in ihren Ländern Kriege herrschen oder weil sie wirtschaftlich keine Perspektiven haben. Sie verlassen ihre Familien, riskieren alles, um hier in Europa resp. in der Schweiz ein besseres Leben zu finden.

Grad jetzt sind die Zeitungen voll mit den Schicksalen von Flüchtlingen. Wie geht die Schweiz – unsere Schweiz – mit diesen Menschen um? Die Schweiz ist gefordert, die Kantone sind gefordert, die Gemeinden sind gefordert. Es braucht Wohnungen, Betreuung, Arbeit, Geld.

An den 1. Augusttagen meiner Kindheit habe ich, wie eingangs gesagt, wenig an die Schweiz und den Sinn des 1. August gedacht. Doch schon als Kind war mir bewusst, dass die Schweiz besondere Werte vertritt und wichtige Aufgaben übernehmen kann und muss. Die Werte der Schweiz bauen unter anderem auf Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Humanität. Denken wir als Beispiel an das Rote Kreuz.

Ich weiss, es ist nicht immer einfach, mit Menschen den Rank zu finden, die uns fremd sind, die eine andere Mentalität haben. Ich weiss, es ist schwierig, für Hilfesuchende einen Platz zu finden zum Wohnen. Und wir wissen, alle können auch nicht bleiben.

Wenn wir heute mit den Herausforderungen der Flüchtlings- und Migrationsströmen konfrontiert werden, dürfen wir unsere eigene Geschichte nicht vergessen. Vergessen wir nicht, dass es unsere Landsleute waren, die vor nicht allzu langer Zeit, die Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen mussten und in eine ungewisse Zukunft gingen. Vergessen wir nicht, dass sie auf einen Platz zum Leben, und auf Arbeit und sicher auch dann und wann auf eine freundliche Geste angewiesen waren.

Vielleicht hilft das Zurückdenken an die eigene Geschichte, wenn wir Migrantinnen und Migranten begegnen.

Und bringen Sie auch Ihren Kindern unsere Geschichte näher. Erzählen Sie ihnen die Geschichte der Migration unserer Landsleute. Auch unsere Migration, unsere Auswanderungsgeschichte gehört zu unserer Identität.

Liebe Kernserinnen und Kernser, liebe Gäste.

Bengalenzündhölzli, verbrannte Finger, Frauenfürze, Zuckerstöcke, vielleicht eine kleine Rakete, ein grosses Feuer, gebratene Cervelats…

Ich wünsche Ihnen einen schönen 1. August 2015. Ich wünsche Ihnen eine Tag mit Besinnung auf unsere Werte, mit dem Bewusstsein, in welch unglaublich schönen und gut funktionierendem Land wir hineingeboren wurden. Ich wünsche Ihnen viel Freude mit Ihren Familien und Freunden. Einen schönen 1. August!

31.07.2015 / Es gilt das gesprochene Wort

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